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Unsichere Arbeitsplätze: Wieso der Kapitalismus die ökonomische Unsicherheit der Massen braucht

Aktualisiert: 26. Mai 2024


In Deutschland ist jeder dritte Arbeitnehmer in einem unsicheren Arbeitsverhältnis beschäftigt – mit weitreichenden Konsequenzen: Zukunftspläne werden brüchig, finanzielle Sorgen alltäglich. Diese verbreitete Jobunsicherheit hinterlässt tiefe Spuren in unserer Gesellschaft. Doch warum ist der Kapitalismus geradezu auf diese Unsicherheit angewiesen? Und wie spielt sie den Rechten in die Hände? Unser Artikel beleuchtet die Zusammenhänge und zeigt auf, was wir jetzt dagegen unternehmen müssen.


Was bedeutete prekäre Arbeit?

Prekäre Arbeit bezeichnet eine Form der Beschäftigung, die durch Unsicherheit und mangelnde Stabilität geprägt ist. Typischerweise schlägt sich das in niedrigen Löhnen, unzureichender sozialer Absicherung und einer ungewissen beruflichen Zukunft nieder. [1]


Diese Arten der Arbeit unterscheiden sich grundlegend vom sogenannten Normalarbeitsverhältnis, das in der Regel Sicherheit und Beständigkeit bietet. Das Normalarbeitsverhältnis ist meist unbefristet, bietet Schutz durch soziale Sicherungssysteme, eine faire Vergütung gemäß Tarifverträgen und wird oft in Vollzeit oder als Teilzeit mit mindestens 21 Wochenstunden ausgeführt. Im Gegensatz zu prekären Beschäftigungsformen bietet es also eine solide Grundlage für die Lebensplanung der Arbeitnehmer. [2]


Welches Ausmaß haben prekäre Beschäftigungsverhältnisse in der Gesellschaft?

In der Blütezeit des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg waren fast 90 Prozent aller Stellen unbefristet, mit Kündigungsschutz und sozialer Sicherheit. Das hat sich mittlerweile durch den massiven neoliberalen Angriff auf die Arbeiter:innen, die Gewerkschaften und den Sozialstaat stark geändert.


Heute sind etwa ⅓ der Erwerbstätigen in einem prekären, sprich: unsicheren - Arbeitsverhältnis beschäftigt. [1] Zu den unsicheren Formen der Beschäftigung zählen unfreiwillige Teilzeitarbeit, befristet Jobs - darunter Leiharbeit und Zeitarbeit sowie die Arbeit auf eigene Rechnung - sogenannte Solo-Selbstständige. [3] Dazu gehört aber auch, dass immer mehr Menschen aus den unteren Lohngruppen trotz eines Vollzeitjobs von Armut bedroht sind. [1]


Immer mehr Menschen pendeln zwischen Arbeitslosigkeit und Erwerbsarbeit


Die Zunahme der Unsicherheit in der Gesellschaft äußert sich auch in der zunehmenden Unberechenbarkeit des Erwerbslebens. Die traditionelle Berufslaubahn wird immer mehr zu einem Relikt vergangener Zeit. In jungen Jahren in einem Betrieb eintreten und dort bis zum Eintritt in den Ruhestand bleiben wird immer seltener.


Vielmehr gibt es eine steigende Anzahl von Personen, deren berufliche Laufbahnen durch häufige Unterbrechungen gekennzeichnet sind. Diese Personen wechseln regelmäßig zwischen Beschäftigung und Arbeitslosigkeit. Sie sind zwar die meiste Zeit über beschäftigt, aber ihre Jobs sind selten von Dauer.


„Beruf, Einkommen und Prestige. Nichts erscheint mehr sicher. Viele Arbeitnehmer schlingern wie auf einem verlassenen Schiff durch das Erwerbsleben. Sie sind äußeren Gefahren ausgeliefert und könne selbst nicht mehr steuern. Viele arbeiten in Berufen für die sich zugleich nicht und überqualifiziert sind. Zum Beispiel wenn ein promovierter Historiker als Teilzeitkraft in einem Kindergarten aushilft. In der Folge fühlen sie sich ihren Hoffnungen beraubt und sozial benachteiligt.“ [1]

Warum der Kapitalismus wirtschaftliche Unsicherheit braucht

Die grundlegende Unsicherheit der Arbeitnehmer:innen ist auf zwei Arten tief in die Struktur des Kapitalismus eingebettet.


Zuallererst erfordert das Bestehen des Kapitalismus eine historische Spaltung der Bevölkerung in zwei Gruppen. Auf der einen Seite steht die vergleichsweise kleine Gruppe der Kapitalisten, die sämtliche Produktionsmittel wie Unternehmen, Maschinen und Land besitzen. Dadurch können sie Waren herstellen, Gewinne erzielen und ihren Reichtum vermehren.


Auf der anderen Seite stehen die Arbeitnehmer:innen und Angestellten, die die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Sie besitzen keine Produktionsmittel. Ihre einzige Möglichkeit, ein Einkommen zu erzielen, besteht darin, ihre Arbeitskraft an die Kapitalisten zu verkaufen.


Diese Struktur führt zu einem Machtgefälle, das den Arbeitnehmer:innen und Angestellten zum Nachteil gereicht. Ohne nennenswerte Ersparnisse, Aktienportfolios, großen Grundbesitz oder eigene Fabriken, mit denen sie Einkommen generieren könnten, sind sie gezwungen, auch schlecht bezahlte Jobs mit schlechten Arbeitsbedingungen anzunehmen. Andernfalls riskieren sie Arbeitslosigkeit und den Verlust ihres - wenn überhaupt vorhandenen - bescheidenen Wohlstands.


Den Unternehmen stehen dadurch auf dem Arbeitsmarkt eine große Zahl von Arbeitskräften zur Verfügung, die häufig zu niedrigen Kosten angestellt werden können. [4]


Wieso das Wirtschaftswachstum die Unsicherheit verstärkt

Neben der historischen Spaltung der Gesellschaft in Kapitalisten und Arbeiter:innen gibt es einen zweiten Mechanismus, der zur Reproduktion von Unsicherheit beiträgt: das Wirtschaftswachstum.


Im Kapitalismus entsteht Wachstum, indem Kapitalisten Wege finden, die Produktivität zu steigern. Dadurch können sie die Verkaufspreise senken und ihren Marktanteil vergrößern. Wenn eine Firma jedoch produktiver wird, kann sie dieselbe Menge an Gütern mit weniger Arbeiter:innen produzieren. Daher entlassen Kapitalisten, die in ihre Produktivität investieren, typischerweise einen Teil ihrer Arbeiter:innen und werfen sie zurück auf den Arbeitsmarkt.


Durch das Wirtschaftswachstum entstehen somit nicht nur neue Arbeitsplätze, sondern es werden auch konstant neue Arbeitssuchende hervorgebracht, die das Wachstum weiter vorantreiben. Dadurch befindet sich die große Mehrheit der Menschen im Kapitalismus in einer Situation, in der sie ihren Job nur behalten können, solange es ihren Vorgesetzten gefällt.


Die Möglichkeit, sich stets auf dem Arbeitsmarkt bedienen zu können, ist für die Kapitalisten ein Segen. Da es unzählige Bewerber:innen für jeden Job gibt, können sie unter diesen Bedingungen die Produktionskosten niedrig halten. Es gibt ihnen die Möglichkeit, die Löhne zu drücken und die Arbeitsverträge flexibel zu gestalten. [4]


Gewerkschaften kämpfen dafür, die Unsicherheit im Kapitalismus abzumildern

Gewerkschaften setzen sich seit jeher dafür ein, die Rechte der Arbeitnehmer zu stärken, für faire Arbeitsbedingungen zu kämpfen und die Ungleichheit in der Gesellschaft zu reduzieren.


Als die Wirtschaft in der Nachkriegszeit zwischen 1950 und 1973 mit einem durchschnittlichen globalen Wachstum von 4,9 % boomte, kam es zu einer kollektiven Wohlstandszunahme. Wie in einem Fahrstuhl fuhren alle Gesellschaftsschichten nach oben und gewannen an Lebensqualität. Selbst ungelernte Arbeiter konnten sich nun ein eigenes Auto, Urlaubsreisen und bessere Bildung für ihre Kinder leisten. [1]


Im Gegensatz zu heute hatten die Gewerkschaften damals eine starke Stellung in der Gesellschaft. Im Durchschnitt waren fast die Hälfte der Bundestagsabgeordneten während der Wirtschaftswunderjahre Mitglied in einer Gewerkschaft. [5] Heute liegt dieser Anteil nur bei etwa 23 Prozent. [6] Parallel dazu ist auch Anteil der gewerkschaftlich organisierten Erwerbstätigen von damals rund 30 Prozent, auf lediglich 15 Prozent gesunken. [7]


Diese Macht ermöglichte es den Gewerkschaften, erfolgreich für stärkere Arbeitnehmerrechte zu kämpfen, unsichere Arbeitsverhältnisse zu bekämpfen und sich für unbefristete Verträge, Arbeitsplatzsicherheit und gerechte Bezahlung einzusetzen. Ihr Engagement führte zum Ausbau staatlicher Sicherungssysteme, die den Zustand der grundlegenden Unsicherheit des Kapitalismus abfederten, sodass in Deutschland bei Krankheit, Ruhestand oder Arbeitsunfällen niemand um sein Einkommen oder seine Existenz bangen musste. [8]


Revolte des Kapitals: Neoliberalismus als Waffe gegen die Erfolge der Gewerkschaften

Die Unternehmen und ihre Vertreter:innen haben jedoch nie aufgehört darauf zu drängen, die Fortschritte, die Gewerkschaften für die Arbeiter erreicht haben, rückgängig zu machen und die wirtschaftliche Unsicherheit der Beschäftigten wieder zu erhöhen. [4]


Als Ende der 1960er Jahre mehrere aufeinanderfolgende Wirtschaftskrisen den langfristigen Abschwung der Weltwirtschaft einleiteten, sank das durchschnittliche Wirtschaftswachstum von etwa vier Prozent in den frühen 1970er-Jahren auf unter zwei Prozent in neuerer Zeit.


Weder Unternehmen noch die Politik konnten das Problem der dauerhaft schwachen Konjunktur lösen. Ab den 1970er-Jahren setzten sie deshalb auf den Neoliberalismus und behaupteten, dass Arbeitnehmerrechte grundsätzlich ein Hemmnis für die ökonomische Effizienz seien und deshalb abgebaut werden müssten.


Mit der Hilfe ihrer politischen Verbündeten gelang es ihnen schließlich, mit erheblichem Erfolg zahlreiche Arbeitnehmerrechte und soziale Sicherungssysteme abzubauen. Sie öffneten neue Märkte, indem sie unter anderem Teile des Gesundheitswesens privatisierten, die zuvor nicht auf Gewinn ausgerichtet waren, lockerten die Regeln für die Finanzmärkte und griffen das abgesicherte Normalarbeitsverhältnis an.


Obwohl diese Schritte die Gewinne der Kapitalisten erhöhten, gab es dadurch bis heute keinen dauerhaften Schub für das Wachstum der Wirtschaft. [1]


Neue Produktionsmethoden zerstören die Macht der Gewerkschaften

Große Firmen sind oft gewerkschaftlich gut organisiert, und die Bereitschaft, für Arbeitnehmerrechte zu kämpfen, steigt meist mit der Unternehmensgröße. Um die Macht der Gewerkschaften zu brechen, war und ist es die Strategie der Kapitalisten, ihre großen Betriebe in kleinere Einheiten aufzuteilen und Aufgaben an externe Dienstleister auszulagern.


Autokonzerne stellen etwa ihre Sitze nicht mehr selbst her, sondern geben diesen Auftrag an andere Firmen weiter. Auch Dienstleistungen wie Reinigung, Sicherheit, Buchhaltung, Kantine oder IT werden häufig an andere Unternehmen ausgelagert.


Dieser Wandel in der Produktionsweise, hat für die Arbeitnehmer zur Folge, dass sie nun in kleineren Firmen arbeiten müssen, in denen Gewerkschaften nicht so stark vertreten sind und die Arbeitsplatzunsicherheit größer ist.


Die Angst davor, arbeitslos zu werden, macht es den Arbeitnehmern schwerer, sich zusammenzuschließen und für faire Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Häufig verschwindet der Kampfgeist sogar vollständig. Die Gewerkschaften büßten dadurch immer mehr Mitglieder ein und verloren an Macht. [9]


Teilzeitarbeit: Günstig für Unternehmen, Unsicherheit für Beschäftigte

Neben der Zunahme klassischer prekärer Arbeitsverhältnisse wie befristeten Verträgen, stellen auch unbefristete Teilzeitverhältnisse einen wesentlichen Anteil der prekären Beschäftigungen dar.


Hier spielt vor allem die zunehmende Berufstätigkeit der Frau eine Rolle. Ihr Anstieg lässt sich einerseits auf ökonomischen Druck zurückführen, vor allem in Haushalten mit niedrigerer Qualifikation, wo ein einzelnes Gehalt oft nicht mehr ausreicht. Gleichzeitig suchen auch höher qualifizierte Frauen, aus einkommensstarken Familien, die Teilzeitarbeit, um sich selbst zu verwirklichen. 


Für viele in Teilzeit beschäftigte bedeutet dieses Arbeitsverhältnis jedoch eine besondere Art der Unsicherheit. Sie wünschen sich ein Normalarbeitsverhältnis. Doch für die Unternehmen ist Teilzeitarbeit oft günstiger, da sie dadurch den Arbeitnehmer:innen geringere Gehälter zahlen und sie flexibler einsetzen können.


Im Einzelhandel etwa nutzen Firmen Teilzeitkräfte oft als flexible Aushilfen. Als Springer haben sie wenig Kontrolle über ihre Arbeitszeiten. Sie müssen bereit sein, kurzfristig einzuspringen, um Personalmangel auszugleichen oder Überstunden zu machen. [1]


Leiharbeit: Die Sorge davor morgen, ohne alles dazustehen

Eine andere weitverbreitete Art der prekären Beschäftigung stellt die Leiharbeit dar. Darunter versteht man Arbeiter:innen, die für eine gewisse Zeit von einer Verleihfirma an eine andere Firma gegen eine Bezahlung ausgeliehen wird.


Es gibt durchaus Beschäftigte, die dieses flexible “Heute hier, morgen dort." schätzen. Das ist aber die Minderheit. Die meisten Leiharbeiter plagt pausenlos die Sorge davor plötzlich ohne Alles dazustehen oder es nicht mehr zu schaffen ein stabiles Leben aufzubauen. Das quält sie auch nachts und raubt ihnen den Schlaf. Sie träumen von einer besseren Zukunft. Um darauf hinzuarbeiten fehlt ihnen aber meist die Energie.


Bei vielen brodelt es innerlich. Sie sind enttäuscht von der Gesellschaft oder wütend auf sie. Häufig ist es eine Mischung aus beiden, wenn sie zum Beispiel von den langen Pendelzeiten erzählen, während das Gehalt kaum für den Sprit reicht.


Am häufigsten kommt es vor, dass sie sich ihrem Schicksal ergeben haben. [1]


Teilen und Herrschen: Prekäre Angestellte erhöhen den Druck auf die Stammbelegschafft

Durch den Einsatz von Leiharbeit spalten die Unternehmen die Beschäftigten in zwei Gruppen auf. Auf der einen Seite stehen die Festangestellten, mit sicheren Arbeitsverträgen und oft guten Löhnen. Sie empfinden ihre soziale Sicherheit als Privileg. Auf der anderen Seite stehen die unsicher Beschäftigten, die regelrecht zu allem bereit sind, um dieser Unsicherheit zu entkommen.


Da sich viele Leiharbeiter:innen und andere prekär Beschäftigte an der Hoffnung festkrallen, es doch noch in einen sicheren, anständig bezahlten Job zu schaffen, entwickeln sie ein zurückhaltendes und angepasstes Verhalten. Weil sie sich praktisch jeden Tag aufs Neue bewerben müssen, überfüllen sie die Anforderungen des Betriebs. Sie arbeiten mehr, länger und härter. Dadurch leiden sie häufig unter einem massiven psychischen und körperlichen Stress.


Aufgrund ihrer Bereitschaft, mehr als die fest angestellten Kollegen zu leisten, können Leiharbeiter vom Management des Unternehmens eingesetzt werden, um die Stammblegschaft zu disziplinieren, und mehr Leistung aus ihnen herauszuquetschen.


Die bloße Anwesenheit von Angestellten mit befristeten Arbeitsverhältnis, Werkverträgen oder Leiharbeitern, die zugleich mit einem Bein im, und mit dem anderen außerhalb des Betriebs stehen, erinnert die Stammbelegschaft, die noch sichere Arbeitsverträge und gute Löhne erhalten, daran, dass die Zukunft auch für sie schlecht aussehen könnte. [1]


Leistungsdruck und Konkurrenzkampf: Die Schattenseite der jährlichen Mitarbeitergespräche

Um noch mehr Leistung aus ihren Mitarbeitern herauszuholen, etablierten die Unternehmen Benchmarks, um sie anhand von Zahlen und Zielen vergleichen zu können. Dazu gehören jährliche Mitarbeitergespräche, relativ formlose Check-in-Gespräche oder andere Methoden der Mitarbeiterbewertung, die den Druck auf die Mitarbeiter und den Wettbewerb zwischen ihnen erhöhen. 


Damit geht einerseits eine ständige Abstiegsdrohung einher und der innerbetriebliche Aufstieg wird immer mühsamer und unplanbarer. Selbst Mitarbeiter, die schon lange im Unternehmen sind, fühlen sich in ihrem Status geschwächt. Die vermeintliche Sicherheit im Job ist wie ein Darlehen, das sie mit Leistung zurückzahlen müssen. [1]


Abstiegsängste breiten sich in der Mitte der Gesellschaft aus

Das Prekariat ist bisher noch nicht so verbreitet, dass man von einer Prekarisierungsgesellschaft sprechen könnte.


Dennoch sorgt die Zunahme von unsicheren Arbeitsverhältnissen, in Kombination mit einer aktivierenden Sozialpolitik nach dem Hartz-IV-Prinzip sowie betriebsinterne Prozesse der Mitarbeiterbewertung für viel Unsicherheit in der Gesellschaft.


Für weite Teile der Mittelschicht hat nicht die reale Bedrohung, sondern hauptsächlich die Angst vor einem sozialen Abstieg zugenommen. Vielen kommt es vor, als sei ihre eigene Stabilität vergangen und ein Absturz jederzeit möglich.


In fast jedem Freundes- oder Bekanntenkreis gibt es jemanden, der in unsicheren Verhältnissen arbeitet oder sozial abgestiegen ist. Sie kennen Geschichten von Kollegen, die durch prekär Beschäftigte ersetzt wurden. Oder sie sehen, dass die eigenen Kinder, trotz oftmals bester Qualifikation, sich zigmal bewähren müssen und sehr lange brauchen, bis sie ein sicheres Beschäftigungsverhältnis erreichen. Selbst mit Ende dreißig befinden sich viele in keiner wirtschaftlich stabilen Lebenssituation, weshalb sie von ihren relativ wohlhabenden Eltern Unterstützung bekommen. [1]


Selbstoptimierung bis zum Umfallen als individuelle Lösungsstrategie

In einer Gesellschaft, die sich immer noch als Aufstiegsgesellschaft versteht, wachsen die Verunsicherungen, wenn es in der Realität nicht mehr aufwärts geht. Viele Menschen sehen sich dauerhaft auf einer Rolltreppe stehen, die nach unten fährt. Um ihre Position in der Gesellschaft überhaupt halten zu können, müssen sie konstant nach oben laufen. Das raubt Kraft und den Glauben daran, es irgendwann doch noch zu schaffen. Die Sorgen vor dem Abstieg steigen.



Wenn der Weg nach oben nicht mehr erreichbar scheint und gemeinschaftliche Handlungsmöglichkeiten, wie zum Beispiel durch Gewerkschaften, entweder kaum vorhanden oder unwirksam sind, greifen die Menschen vermehrt zu Strategien der Selbstoptimierung. Diese münden in einer fast vollständigen Hingabe an den Wettbewerb.


Viele Menschen steigern ihre Leistung im Unternehmen. Sie leisten oftmals unbezahlte Überstunden, sind für den Chef auch außerhalb der Arbeitszeit erreichbar oder übernehmen Aufgaben, die über ihr ursprüngliches Jobprofil hinausgehen. Dafür opfern sie Dinge, die für ein gutes Leben wichtig wie ihre Freizeit oder eine gute Work-Life-Balance. Den damit verbundenen Stress und den vollständigen Sinnverlust nehmen sie in Kauf.


Die Menschen passen sich immer mehr an, weil der Markt tief in das Privatleben eindringt und gemeinschaftliche Lösungen zerstört. Sie nehmen das Prinzip an, dass nur Leistung zählt, was oft zu Erschöpfung und dem Gefühl des Ausgebranntseins führt. [1] Es wundert also nicht, dass der zweithäufigste Grunde für den hohen Krankenstand von Arbeitnehmer:innen im Jahr 2023 psychische Erkrankungen wie Depressionen waren. [10]


Die Mittelschicht grenzt sich ab

Die breite Verunsicherung in der Gesellschaft führt dazu, dass die obere und mittlere Mittelschicht ihr Leben ganz dem Erhalt ihres Status widmet. Ihre verbleibende Freizeit nutzen sie um sich (weiter) zu bilden und ihre Kinder lernen schon in frühen Jahren Geige oder Chinesisch. Dadurch grenzt sich die Mittelschicht von anderen Schichten ab und kündigt zum Teil die Solidarität mit ökonomisch schwächeren Gruppen. Der Unterschicht werfen sie etwa vor, ungebildet, faul und desinteressiert am Aufstieg zu sein.


Diejenigen, aus der Mittelschicht, die tatsächlich einen relativen Abstieg erfahren haben, geben sich selbst die Schuld dafür. Sie versuchen sich durch hohe Leistung, um jeden Preis über den Beruf wieder in eine sichere Lebensbahn zu bringen. Auch sie begegnen vermeintlich schwächeren, fauleren oder weniger leistungsbereiten Menschen mit Vorurteilen.


Vertreter der Unterschicht fühlen sich ausgegrenzt, abgewertet, und hoffnungslos. An eine bessere Zukunft glauben sie nicht mehr. [1]


 Die verunsicherte Gesellschaft und der Aufstieg autoritärer Kräfte

Früher konnten man im Falle einer Arbeitslosigkeit dem Chef oder wenn man es nicht geschafft hat in der Gesellschaft aufzusteigen, dem System die Schuld geben. Diese Deutung existiert heute in der Gesellschaft, die auf Individualisierung und Eigenverantwortung setzt, kaum mehr.


Viele Menschen befinden sich im ständigen Kampf gegen den realen oder gefühlten sozialen Abstieg und passen sich immer wieder den Veränderungen des Marktes an. Sie versuchen, alle Erwartungen zu erfüllen.


Wenn sie dann in den Nachrichten von Geflüchteten hören, die schon allein aufgrund ihrer Kultur nicht angepasst sind und auch noch etwas von dem vermeintlich schrumpfenden Kuchen abhaben wollen wächst ihre Frustration. In Verbindung mit dem Gefühl, von der Politik und dem demokratischen Staat im Stich gelassen zu sein, wächst der Ruf nach autoritären Führern, die für Ordnung sorgen. Diese Stimmung kann man an der Zunahme rechter Bewegungen erkennen. [1]


 

Das kannst du tun:


  1. Gewerkschaft beitreten:

Werde Gewerkschaftsmitglied, um Teil der Arbeiter:innenbewegung zu werden.

 

2. Mitmenschen aufklären:

Kläre Menschen über die grundlegende ökonomische Unsicherheit der

Bürger:innen im Kapitalismus auf  wie Gewerkschaften diese abmildern.

 

3. Spenden und engagieren:

Unterstütze Genug ist Genug mit deiner Mitarbeit oder Spende, und helfe uns

dabei, die Arbeiter:innen-bewegung zu stärken.




 

Quellenangaben:


Quellen ausklappen

[1] Nachtwey, O. (2016). Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. https://edoc.unibas.ch/56256/

[2] Oschmiansky, F. (2022, January 12). Das Normalarbeitsverhältnis. bpb.de. https://www.bpb.de/themen/arbeit/arbeitsmarktpolitik/317174/das-normalarbeitsverhaeltnis/

[3] Crouch, C. (2019). Gig economy: Prekäre Arbeit im Zeitalter von Uber, Minijobs & Co. Suhrkamp Verlag.

[4] Vivek Chibber, V. (2022). Das ABC des Kapitalismus. Brumaire Verlag. https://brumaireverlag.de/Das-ABC-des-Kapitalismus

[5] Hirche, K. (o. D.). Gewerkschafter im Siebten Deutschen Bundestag. https://library.fes.de/gmh/main/pdf-files/gmh/1973/1973-02-a-083.pdf

[6] Dgb. (o. D.). Datenanalyse: Gewerkschaftsmitglieder im Deutschen Bundestag. DGB. https://www.dgb.de/++co++553f4d24-4678-11e9-b515-52540088cada

[7] Bildung, B. F. P. (2021, 8. Dezember). Unternehmerverbände und Gewerkschaften - Mitgliederstand und verbandspolitische Reichweite. bpb.de. https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/309846/unternehmerverbaende-und-gewerkschaften-mitgliederstand-und-verbandspolitische-reichweite/

[8] Dgb. (o. D.-b). Erfolge der Gewerkschaften im Spiegel der Maiplakate. DGB. https://www.dgb.de/themen/++co++d3afa698-d3ba-11e4-b7f0-52540023ef1a#sozialesicherheit

[9] Boltanski, L. & Chiapello, È. (2006). Der neue Geist des Kapitalismus. BoD – Books on Demand.

[10] WDR, S. Z. (2024, January 26). Krankenstand drückte Deutschland wohl in Rezession. tagesschau.de. https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/rekord-krankenstand-rezession-100.html




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